Dschungelcamp 2016

Auf der Couch durch den Dschungel

Es ist Januar: Zeit, um ins Dschungelcamp zu ziehen. Warum ist der Quotenrenner von RTL so beliebt? Die Aufgaben kennt man größtenteils schon seit Jahren, die Promi-Kandidaten in der Regel nicht. Doch Achtung: Es ist eine griechische Tragödie!

Sie haben bereits geistig Platz genommen und die Namen der mehr oder weniger unbekannten Prominenten von RTL studiert? Sich innerlich auf Gerichte mit Tieraugen und Kaskaden von Kakerlaken eingestellt? Dann sind Sie dschungelkrank!

Keine Angst, es geht vielen so. Die Einschaltquoten im letzten Jahr lagen bei jeder Folge über sechs Millionen Zuschauer – und dass zu später Stunde. Das ist mehr als „Heute-Journal“ oder „Bergdoktor“, die beide zu deutlich besseren Sendezeiten laufen, vor dem HD-Altar versammeln können.

Wenn man nach den Ursachen für diese Beliebtheit forscht, stößt man zuallerst auf ein scharfzüngiges und demontierfreudiges Moderatorenteam, dessen Kommentare mal guillotinenhaft derbe, mal mit feinem Florett, ganz selten mitleidig und immer schadenfroh die Schwächen der Kandidaten aufs Korn nehmen.

Sonja Zietlow und Daniel Hartwich, früher auch der unvergessene Dirk Bach, gehen eine Allianz mit dem Zuschauer ein, erklären ihm das Panoptikum der Gescheiterten, die ins Dschungelcamp ziehen, mit der Hoffnung, als Gewinner(in) wie Phönix aus der Asche am Ende aufzuerstehen. Anders als bei manchen Casting-Show-Gewinnern ist es einigen damit in der Vergangenheit durchaus gelungen, sich eine lukrative Nische im öffentlichen Interesse zu sichern.

Womit wir bei den Kandidaten sind. Bekannt? Nein, die meisten nicht wirklich, eher Randtypen und No-Names, die mal irgendwo dabei oder fast dabei oder mal kurz dabei waren. Dann kommen einige dazu, die man kannte und die an irgend etwas – meistens am Geld oder an sich selbst- gescheitert sind. Und in einer weiteren Kategorie stellt sich immer die Frage, warum sie oder er sich das eigentlich antut.

Aber egal: Schon nach wenigen Sendungen haben die Kandidaten eine öffentliche Aufmerksamkeit erreicht, die sicherlich einem Prominentenstatus gleichkommt. Die Zuschauer lieben sie oder lehnen sie ab, lieben sie zunächst, erfahren mehr, lehnen sie dann ab, erfahren noch mehr, lieben sie wieder und so weiter.

In unendlichen Konflikten, garniert mir Bottichen aus Fischabfällen, geht das Schauspiel zwei Wochen lang allabendlich von einer Runde in die nächste, die Protagonisten werden zur Familie, gewinnen – wenngleich auch nur holzschnittartig – an Kontur. Das mit dem Holzschnitt soll keinesfalls abfällig sein: Was hat der Künstler Frans Masereel nicht alles an Lebendigkeit in seinen Holzschnitten eingefangen?

Morgens bei der Arbeit sieht man leicht an den übernächtigten Blicken, wer alles zur Hardcore-Gemeinde der Dschungelcamper gehört, und ist erleichtert, nicht alleine zu sein. Ein weiteres Erfolgsrezept für das Dschungelcamp ist die Gemeinschaft, die es unter den Zuschauern schafft. Leute, die sich sonst wenig zu sagen haben, sprechen plötzlich ungehemmt miteinander über die Dinge, die sie am Vorabend auf RTL gesehen haben.

Nach wenigen Tagen wird das Dschungelcamp für die Zuschauer zu einer Miniatur der eigenen Lebenswirklichkeit, zu einer Projektionsfläche für Gutes und Böses, Großmut, Verzagtheit, Hinterlist, Freundschaft, Mut, Schwatzhaftigkeit, Intrigentum – kurzum: Das Dschungelcamp wird zu einer Wohnzimmerversion der klassischen griechischen Tragödie im Sinne Aristoteles.

Der Zuschauer wähnt sich – geschickten Schnitten der Redaktion sei Dank – in einer Einheit von Zeit, Raum und Handlung, den drei Konstruktionsprinzipien des aristotelischen Dramas. Im einzigartigen Gesuhle der menschlichen Höhen und Tiefen, im Mit- und Gegeneinander der Kandidaten, die scheinbar achtlos in den Dschungel geworfen wurden, rechtlos den Anweisungen der Moderatoren ausgeliefert sind und gelegentlich vom Deus ex machina in Gestalt von Dr. Bob gerettet werden müssen, kommt es zur inneren Reinigung, die Aristoteles als Katharsis bezeichnet.

Der Wunsch nach Katharsis ist wohl der stärkste Antrieb, um sich von 22:15 Uhr bis Mitternacht mit Knabbereien und Getränken im großen Zuschauerraum einzufinden und die klassischen katharsischen Gefühle von Jammer, Rührung, Schrecken und Schauder, Mitleid und Furcht zu durchleben.

In diesem Durchleben der Höhen und Abgründe fällt der Stress ab und die Gedanken werden entschlackt. Jeden Abend erfährt der Zuschauer zwei entspannende Wellness-Stunden, die seinen Erlebnis- und Gefühlshaushalt reinigen. Aristoteles hätte gesagt: „Die Seele wird geläutert.“

Man mag die vorgetragene These gewagt finden, aber wer es nicht glaubt, kann es ja dem Autor heute Abend gleichtun und sich auf den Start der Vorstellung freuen.

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