Reproduktionsmediziner schlagen Alarm

Kinderwunsch-Medizin auf dem Abstellgleis?

Stand 20.09.2023

Am 20.9.2023 startet der größte deutschsprachige Kongress zur Kinderwunschmedizin in Bonn. Auf dem Programm stehen 65 wissenschaftliche Vorträge zum aktuellen Stand der Reproduktionsmedizin und mehrere hundert Kurzzusammenfassungen aktueller wissenschaftlicher Arbeiten. Im Vorfeld haben führende Professoren ein Manifest verfasst, indem sie auf Fehlentwicklungen im Bereich Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin hinweisen

Von der Pubertät über den Kinderwunsch bis weit in die Wechseljahre hinein sind Hormone wichtig für das Frausein. Die „Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin“ ist der Fachbereich, der für die Diagnose und Therapie hormoneller Störungen und die Erfüllung eines Kinderwunsches zuständig ist. Damit ist dieser Bereich neben der „Gynäkologie und der Gynäkologischen Onkologie“ sowie der „Pränatalen Geburtshilfe“ eine der drei Säulen der Frauenheilkunde. Doch die Entwicklung an den Universitäten spiegelt keinesfalls die Bedeutung dieses Bereiches wider, so die Verfasser*innen des Marburger Manifestes mit dem etwas sperrigen Titel „Situationsbeschreibung, zukünftige Herausforderungen und Vorschläge zur Stärkung der universitären Gynäkologischen Endokrinologie und Reproduktionsmedizin“. Die Wissenschaftler*innen beklagen einen zunehmenden Bedeutungsverlust ihres Faches an Universitäten mit weitreichenden Folgen.

Von den zwölf Universitätskliniken mit besetzten Professuren und vollständiger Abdeckung dieses Themenbereiches, die 2003 noch an den deutschen Universitäten existierten, sind heute nur noch drei Lehrstühle unter professoraler Leitung geblieben. Das bleibt nicht ohne Folgen, wie die Expert*innen in ihrem Manifest schreiben: „Insbesondere in der Grundlagen- und klinischen Forschung zur Gynäkologischen Endokrinologie und assistierten Reproduktion liegt Deutschland im internationalen Vergleich weit abgeschlagen, so dass es schon seit längerer Zeit keine nennenswerte Rolle mehr in der internationalen wissenschaftlichen Fachdiskussion besetzt.“

Lübeck, Bonn und Heidelberg sind die drei Universitäten mit Lehrstühlen, die das gesamte Fachgebiet Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin anbieten. Es gibt zwar noch 19 Universitätskliniken, die entsprechende Abteilungen aufführen, aber ohne Lehrstuhl und die damit verbundene Qualität in Forschung und Lehre. In den Bundesländern Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen gibt es kein universitäres Angebot für Reproduktionsmedizin. Ehemals bestehende Standorte der universitären Reproduktionsmedizin mit hohem wissenschaftlichem und klinischem Renommee wie Berlin (Charité), Hamburg (UK Eppendorf) oder Aachen wurden nicht adäquat nachbesetzt und die Abteilungen wurden geschlossen.

Von einer führenden Position ins Mittelmaß

Dabei war Deutschland einmal Vorreiter, zum Beispiel als es um die Entwicklung der Pille oder der Hormontherapie in den Wechseljahren ging. Doch immer weniger Lehrstühle haben zu einem Verlust an wissenschaftlicher Kompetenz geführt. Qualifizierte und engagierte Mediziner*innen haben die Entwicklung längst wahrgenommen und ziehen für Forschung und Lehre ins Ausland.

Das lässt sich auch an der Anzahl der eingereichten Arbeiten für den weltweit größten und bedeutendsten Fachkongress ablesen, wie die Verfasser*innen des Manifestes beklagen: „In den vergangenen sechs Jahren lag Deutschland weit abgeschlagen auch hinter kleineren Ländern, wie den Niederlanden, Dänemark und Belgien, auf dem 12. bis 18. Platz.“

Was sind die Folgen? Im Bereich „Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin“ werden Forschung und Ausbildung an den deutschen Universitäten nicht mehr den Bedarf an Innovation und qualifiziertem Personal decken können. Die flächendeckende Versorgung durch öffentlich-universitäre Einrichtungen nimmt immer weiter ab und verlagert sich in den privatwirtschaftlichen Bereich. Die assistierte Reproduktion, also die künstliche Befruchtung, findet heute schon nur noch zu gut 10 % an Universitäten statt. Bereits jetzt gibt es 14 Konzern-geleitete und „private equity“ finanzierte reproduktionsmedizinische Zentren in Deutschland, die umfangreiche Services für eine gut zahlende Klientel anbieten, geben die Verfasser*innen des Manifestes an.

Welche Folgen hat das für Patient*innen?

Der Wissenstransfer von Forschung und Lehre hin zur niedergelassenen Ärztin und zum niedergelassenen Arzt wird auf nationaler Ebene von dieser Entwicklung stark beeinträchtigt. Das Manifest beschreibt unter dem Punkt „Patientenversorgung“, wie unsere Gesellschaft in einem raschen Wandel ist und zugleich ein rasanter wissenschaftlicher Fortschritt neue Möglichkeiten mit sich bringt. Als Beispiele werden die Zunahme später Mutterschaften, die Familienbildung gleichgeschlechtlicher Paare, die Transgendermedizin, der Umgang mit immer größeren Datenmengen zu genetischen Informationen im Zusammenhang mit der Reproduktionsmedizin und die Erhaltung der Fruchtbarkeit nach schweren Erkrankungen genannt. Die gesellschaftlichen Erfordernisse stehen also eher auf Aufbruch und Ausbau statt auf Rückschritt.

Universitäre Forschung, Lehre und Ausbildung und ein interdisziplinärer Behandlungsansatz wird auch als Gegenpol zu einer im Raum stehenden kommerziellen Medizin gesehen, die sich die Behandlungsrosinen aus dem Patientinnenkuchen herauspickt. Dies würde, so die Autor*innen, zu Lasten der Erforschung und Anwendung neuer diagnostischer und therapeutischer Verfahren in Deutschland gehen. Darüber hinaus ist die Behandlung mancher Patient*innen mit komplexen (Vor-)Erkrankungen nur in der Zusammenarbeit mehrerer Abteilungen in entsprechend ausgestatteten Universitätskliniken durchzuführen. Um umfassende Behandlungsmöglichkeiten sicherzustellen, benötigen Universitätskliniken in der Breite genügend Ressourcen.

Adressaten des Marburger Manifests sind die Wissenschaftsministerien der Länder, die für die Ausstattung und den Zuschnitt der universitären Strukturen zuständig sind und finanzielle Mittel bereitstellen müssen. Über deren Reaktionen werden wir weiter berichten, sobald sie vorliegen.

Quelle:
Von Versen-Höynck, F; Krüssel, J-S; Griesinger, G; et al. Situationsbeschreibung, zukünftige Herausforderungen und Vorschläge zur Stärkung der universitären Gynäkologischen Endokrinologie und Reproduktionsmedizin – das Marburger Manifest“; Geburtsh Frauenheilk 2023; 83: 897-904.

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