Übergewicht bei Kindern

Nicht immer ist es die Ernährung

Selbst schuld am Dicksein? – Bei einer hormonellen Fehlfunktion spielen Ernährung und Lebensweise eher eine untergeordnete Rolle bei der Gewichtszunahme. Das „Hungerhormon Leptin“ ist oftmals entscheidend bei der Entwicklung von Übergewicht im Kindesalter, wie Professor Dr. Martin Wabitsch zum Start der „Deutschen Hormonwoche“ erläuterte, die von der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie e.V. (DGE) veranstaltet wird

19.09.2021

Wenn ein Kind übergewichtig oder adipös ist, wird dies häufig auf eine schlechte und unangepasste Ernährung und Lebensweise zurückgeführt. Nicht selten stehen Eltern und Kind an einem unsichtbaren moralischen Pranger, den das Umfeld allzu schnell und selbstgerecht errichtet hat. Doch häufig liegt es nicht in der Hand der betroffenen Eltern und Kinder, wie sich das Übergewicht entwickelt. Auf einer Pressekonferenz betont Professor Dr. Wabitsch, dass Adipositas bei Kindern kein selbstgewählter Zustand sei, sondern eine Krankheit.

Die Rolle des „Hungerhormons Leptin“

Das Eiweißhormon Leptin wird im Fettgewebe gebildet. Es wird über die Blutbahn vom Fettgewebe zum Gehirn transportiert und wirkt dort auf alle hormonellen Regulationszentren, indem es die Energiereserven meldet, die für Wachstum und Entwicklung zur Verfügung stehen. Ist zu wenig Leptin vorhanden, weiß das Gehirn, dass der Körper sparsam mit seinen Ressourcen umgehen muss und macht sich zugleich auf die Suche nach Energiequellen: Es entsteht ein starkes Hungergefühl, damit dem Körper wieder die nötige Energie zugeführt wird. Der niedrige Leptinspiegel sorgt dafür, dass sich Betroffene auf die Suche nach Nahrung machen. Diese Suche, der berühmte „Heißhunger“, bestimmt nunmehr das Denken.

Es gibt neben Leptin weitere Hormone, die das Zusammenspiel von Hunger und Sättigung regeln, aber ihm kommt eine bedeutende Rolle zu. Leider gibt es Funktionsstörungen, die den Leptin-Mechanismus beeinträchtigen oder zum Erliegen bringen. Sehr selten kann es vorkommen, dass das Hormon nicht im Körper gebildet wird und zugeführt werden muss. Viel häufiger jedoch ist eine „Leptinresistenz“ zu beobachten, bei der das Hormon zwar mit hohen Werten im Körper vorhanden ist, aber keine Wirkung mehr entfaltet. Die Folge: Obwohl bereits Energiereserven in Hülle und Fülle vorhanden sind, gibt das Gehirn den nachdrücklichen Befehl, sich auf die Nahrungssuche zu machen. Hier sucht die Forschung aktuell nach Erklärungs- und Behandlungsmöglichkeiten, so Professor Wabitsch.

Der Diskriminierung entgegenwirken

Die Ebene der unbewussten Steuerung des Essverhaltens durch das sogenannte homöostatische System gewinnt gegenüber dem bewussten und damit beeinflussbaren Verhalten häufig die Oberhand, vor allem bei Kindern, bei denen das kognitiv-emotionale System noch nicht so ausgeprägt ist. Rationale Entscheidungen zur Gewichtsregulation, die Erwachsenen schon sehr schwer fallen, sind für Kinder fast unmöglich. Und selbst Erwachsene haben willentlich oft keine Chance gegen die körpereigenen Prozesse, die den Hunger und damit die Gewichtszunahme steuern.

Es sei daher falsch, Eltern oder Kindern die Schuld für eine Adipositas zu geben. „Adipositas bei Kindern ist nur teilweise und oft nicht nachhaltig willentlich zu beeinflussen. Durch sehr effektive hormonelle und neuronale Regelkreise wehrt sich der Körper gegen eine langfristige Gewichtsabnahme und zeigt die Tendenz, ein einmal erreichtes Höchstgewicht wiederzuerlangen.“ sagt Professor Wabitsch.

Die Schuldzuweisungen an Kinder, die unter Adipositas leiden, und an ihre Eltern seien stigmatisierend, zumal sie nicht nur aus dem persönlichen Umfeld kommen. Selbst 50 Prozent der Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen würden die Mechanismen zur Regulation des Körpergewichtes nicht kennen und entsprechend falsch reagieren. Die Kinder leiden unter Schuldzuweisungen und das sei frustrierend für sie.

Adipositas sei kein willentlich selbst gewählter Zustand, sondern sei wie eine chronische Krankheit einzustufen und dementsprechend wäre auch ein strukturiertes Behandlungsprogramm (Disease Management Programm) nötig.

Disease Management Programme sind langfristig angelegte Behandlungsstrategien für chronisch Erkrankte mit festgelegten Qualitätsanforderungen an die Therapie und die behandelnden Arztpraxen. So ein Programm sei aktuell auf Veranlassung des Bundesgesundheitsministeriums in Arbeit und würde dazu beitragen, adipösen Kindern und Erwachsenen ehrlich und durch wissenschaftliche Daten fundiert zu helfen.

Eine Verhaltenstherapie mit Erziehung zu Bewegung und gesunder Ernährung sei natürlich wichtig, so Wabitsch, kann aber den natürlichen Regulierungsmechanismus häufig nicht ausser Kraft setzen.

Quellen:
Online-Pressekonferenz anlässlich der 6. Deutschen Hormonwoche (18. bis 25. September 2021) der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie e. V. (DGE)

Prof. Dr. Martin Wabitsch ist Sektionsleiter Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie und Leiter des endokrinologischen Forschungslabors der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Ulm

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