Magersucht
Magersucht ist eine Essstörung – und die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeitsrate. Ca. 20 Prozent der Erkrankten sterben an den Folgen. Die Ursachen hierfür sind Mangelernährung und Fehlernährung, die zu Organschäden führen können, sowie Selbstmord. Je länger die Magersucht anhält, desto höher ist das Sterblichkeitsrisiko.
Was ist eine Magersucht?
Mit Magersucht (medizinischer Fachbegriff: Anorexie oder Anorexia nervosa) wird eine krankhafte Essstörung mit weitreichenden physischen und psychischen Auswirkungen für die Betroffenen bezeichnet. Als magersüchtig gilt, wer einen Body-Mass-Index (BMI) unter 17,5 aufweist. Dies entspricht einem Gewicht von mindestens 15 Prozent unterhalb des Normalbereichs.
Magersucht ist – wie weitläufig angenommen wird – keine Modekrankheit: Bereits 1869 wurde sie in der medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ beschrieben. Die Erkrankten nehmen dabei kaum oder keine Nahrung zu sich und tun alles, um abzunehmen. Ihre Gedankenwelt kreist krankhaft um Ernährung, Gewicht, Kalorien, Bewegung, Leistungsfähigkeit und Disziplin.
Magersucht ist häufig das Streben nach Selbstbestimmung und Selbstkontrolle und die Abwehr von Fremdbestimmung. Betroffene weisen vor Ausbruch der Erkrankung bestimmte Charakterzüge auf, wie z. B. ein geringes Selbstbewusstsein und den Drang zum Perfektionismus. Fast immer ist die Magersucht ein Symptom eines tiefer liegenden psychischen Problems, das behandelt werden muss.
Wer ist betroffen?
Besonders häufig tritt Magersucht bei Mädchen in der Pubertät auf. Man geht davon aus, dass etwa 0,5 Prozent der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 35 Jahren unter Magersucht leiden. Aber auch Jungen und erwachsene Frauen und Männer können betroffen sein – die Fallzahlen sind hier aber deutlich geringer.
Wie entsteht eine Magersucht?
Die Ursachen für die Entstehung einer Magersucht sind sehr vielfältig. Entsprechend ist nicht von einem einzelnen Auslöser auszugehen – in der Regel kommen verschiedene Ursachen zusammen. Bitte beachten Sie: Die hier vorgestellten Ursachen stellen nur einen kleinen Ausschnitt dar. Für tiefergehende Informationen sprechen Sie bitte Ihren Arzt oder spezialisierte Beratungszentren an.
Anlagebedingten Faktoren:
Verwandte von magersüchtigen Patienten weisen Studien zufolge ein wesentlich erhöhtes Risiko auf, selbst auch eine Magersucht zu entwickeln. Je enger der Verwandtschaftsgrad – desto höher das Risiko. Verschiedene Gene scheinen also dazu beitragen, das Risiko für eine Magersucht zu erhöhen.
Biologische Faktoren:
Der Botenstoff Serotonin, der in Nervenzellen des Gehirns gebildet wird, beeinflusst das Hunger- und Sättigungsgefühl. Liegt hier eine Störung vor, kann dies unter Umständen eine Entstehung fördern, in jedem Fall wird die Essstörung dadurch aufrechterhalten.
Psychische Gründe:
Hier ist z. B. eine „allgemeine Lebens-Überforderung“ zu nennen. Diese tritt häufig in der Pubertät auf: Schule, Familie, Freunde, die körperliche und sexuelle Entwicklung etc. – in diesem Alter sehen sich Heranwachsende oft Kritik und hohen Anforderungen ausgesetzt und müssen diese mit ihren eigenen Wünschen und Ansprüchen vereinbaren. Schnell entsteht das Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren. Daraus kann sich das Bedürfnis entwickeln, mit der „Kontrolle über die Nahrung“ wenigstens hier „überlegen“ zu sein.
Diskutiert wird auch, ob die Magersucht der unterbewusste Wunsch der Betroffenen ist, nicht erwachsen werden zu müssen. Sie möchten ihre Entwicklung stoppen und lieber Kind bleiben.
Häufig wird auch eine gestörte Eltern-Kind-Beziehung als Ursache für eine Magersucht ausgemacht. Hier ist in erster Linie das Streben nach Autonomie von der Mutter zu sehen – man spricht von einem Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt. Zum einen haben die Betroffenen Angst, die Mutter zu verlieren und allein zu sein, zum anderen möchten sie sich ihrer Kontrolle und der Abhängigkeit entziehen. Diesen Konflikt tragen sie dann über die selbstgewählte Kontrolle über ihr Gewicht und ihren Körper aus.
Familiäre Gründe spielen nicht nur in puncto Konflikte eine wichtige Rolle: Auch das Essverhalten und die Ernährungsphilosophien der Eltern, Großeltern oder Geschwister färben auf die Betroffenen ab. Werden fetthaltige, kalorienreiche Lebensmittel als „schlecht“ gebrandmarkt, merken sich das die Kinder und entwickeln eine ablehnende Einstellung dazu. Aber gerade in der Kindheit und Pubertät ist eine ausgewogene Ernährung mit ausreichend hohem Fett- und Proteinanteil enorm wichtig für die geistige und körperliche Entwicklung.
Die Einstellung der engsten Bezugspersonen zu Gewicht, Figur, Diäten und Sport ist ebenfalls eine wichtige Orientierung für die Heranwachsenden. Entsteht bei ihnen das Bild, dass nur dünne Menschen schön und erfolgreich sind, ist die Entstehung einer Essstörung wahrscheinlicher.
Gesellschaftliche Faktoren:
Sie greifen das gerade Beschriebene auf – nur in größerem Maßstab. Die bunte, laute Welt der Medien will uns glauben machen, dass nur schlanke Menschen begehrenswert und erfolgreich sein können. In den sozialen Netzwerken beherrschen Jugendliche die Kunst der Selbstdarstellung aus dem Effeff – Selfies werden per Bildbearbeitung in die „richtige Form“ gebracht. Schlanker – schöner – besser: Mit diesem Motto wächst der Druck immer weiter an, und schon Kinder probieren erste Diäten aus. Die Betroffenen kontrollieren genau, was sie essen. Durch die ersten „Abnehmerfolge“ bekommen sie Komplimente von ihrem Umfeld. So entwickeln sie einen Ehrgeiz, immer weiter abzunehmen, verlieren mit und mit das Gefühl von Hunger und Sättigung und entwickeln eine Essstörung.
Traumatische Erfahrungen:
Sexueller Missbrauch oder andere körperliche und psychische Misshandlungen sind häufig in der Vita Magersüchtiger zu finden. Experten erklären dies damit, dass die Betroffenen durch die Selbstkontrolle über ihren Körper versuchen, dem Ohnmachtsgefühl der traumatischen Erfahrung entgegenzuwirken.
Welche Formen der Magersucht gibt es?
Es wird zwischen der restriktiven Anorexia nervosa und dem sogenannten Purging-Typ unterschieden:
- Bei der restriktiven Anorexia nervosa hungern sich die Erkrankten auf ein extremes Untergewicht. Sie meiden kalorien- und fettreiche Lebensmittel und ihre Gedankenwelt dreht sich nur darum, abzunehmen, Kalorien zu sparen und dennoch leistungsfähig zu sein. Sie planen häufig bis ins kleinste Detail, wie sie mit der ihnen zur Verfügung stehenden Kraft ihre Aufgaben am effektivsten erledigen können.
- Der Purging-Typ (engl.: to purge = abführen) geht noch einen Schritt weiter: Die Betroffenen verstärken ihren Gewichtsverlust durch exzessive sportliche Betätigung und / oder die Einnahme von Appetitzüglern, Abführmitteln oder entwässernden Medikamenten. Manche übergeben sich nach dem Essen, um ihr Gewicht weiter zu senken oder um eine Gewichtszunahme zu vermeiden.
Welche Symptome treten auf?
Die Symptomatik bei Magersucht ist vielfältig und betrifft sowohl körperliche als auch psychische Bereiche. Die Betroffenen selbst empfinden sich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht als krank, weisen den Verdacht auf eine Essstörung weit von sich und reagieren gereizt auf entsprechende Anmerkungen.
Das auffälligste Symptom ist der starke, selbst verursachte Gewichtsverlust. Hinzu kommt die große Angst vor einer Gewichtszunahme – unter anderem deswegen beschäftigen sich die Betroffenen krankhaft mit der Ernährung und scannen Kalorien, Fette, Inhaltsstoffe etc. sie nehmen ihren eigenen Körper falsch wahr und halten sich für zu dick, obwohl sie schon unter ein erhebliches Untergewicht aufweisen.
Ihr Verhalten ist oft perfektionistisch. Sie haben höchste Ansprüche an ihre Leistungsfähigkeit und Selbstdisziplin und akzeptieren keine „Schwäche“. Sie verlieren das Gefühl für ihren Körper und fühlen z. B. keine Müdigkeit, Erschöpfung oder gar Schmerzen. Sie erlauben sich keine Pausen, weil sie funktionieren müssen. Viele leiden auch an depressiven Verstimmungen.
Betroffene entwickeln Rituale beim Essen: Manche stochern minutenlang darin herum, andere kauen auffällig langsam, wiederum andere trinken nach jedem Bissen ein Glas Wasser, um das Hungergefühl zu unterdrücken.
Der hohe Gewichtsverlust führt zwangsläufig auch zu körperlichen Symptomen, die im schlimmsten Fall zum Tod führen können. Durch die Mangelernährung geht der Körper in den „Energiesparmodus“, z. B. mit folgenden Auswirkungen: Abbau von Muskelmasse, brüchige Nägel, Blasenschwäche, Blutarmut, niedrigem Blutdruck, erhöhte Anfälligkeit für Infektionen, Haarausfall, verlangsamtem Herzschlag, Herzrhythmusstörungen, niedriger Körpertemperatur (kalte Extremitäten), Nierenschäden, Ödeme, Schwund des Hirngewebes, Störungen des Knochenstoffwechsels (Osteoporose), trockene, schuppige Haut, Unterzuckerung, Verstopfung , Zahnausfall, Karies.
Die extreme Unterernährung führt auch zu hormonellen Veränderungen, bei Mädchen bleibt z. B: häufig die Monatsblutung aus. Betroffene verlieren das Interesse an Sexualität, bei Männern können Potenzprobleme auftreten.
Bei Kindern, die vor der Pubertät magersüchtig werden, verzögert sich deren Entwicklung immens, so sind z. B. ihr Wachstum und die Reifung des Gehirns beeinträchtigt.
Wie stellt der Arzt eine Magersucht fest?
Die Erkrankung ist ab einem gewissen Zeitpunkt offensichtlich. Bis es zu einer ärztlich gestellten Diagnose kommt, dauert es in der Regel aber, da die Betroffenen nur in seltenen Fällen von sich aus professionelle Hilfe suchen. Meist geht der Impuls von besorgten, verzweifelten Familienmitgliedern aus.
Die Diagnosestellung beginnt mit einem ausführlichen Anamnesegespräch, in dem sich der Arzt viel Zeit für den Erkrankten nimmt. Er fragt nach dem Allgemeinzustand, nach der Lebenssituation, aber auch speziell nach dem Essverhalten, dem eigenen Körpergefühl und nach der Motivation für den Gewichtsverlust.
Zur Gesprächsführung nutzt der Arzt auch standardisierte Fragebögen, um ein möglichst umfassendes Bild des Betroffenen zu gewinnen und auch Zwangsstörungen und/oder andere psychische Erkrankungen wie z. B. Depressionen, zu erkennen. Bei der Anamneseerhebung wird ein sogenannter psychopathologischer Befund erstellt.
Bei der anschließenden körperlichen Untersuchung schaut der Arzt, wie stark sich das Körpergewicht durch die Magersucht schon reduziert hat. Er wird den Patienten wiegen und messen. Anhand der BMI-Perzentilenkurve bei Jugendlichen bzw. anhand des Body-Mass-Indexes bei Erwachsenen bestimmt er den Grad des Untergewichts.
In der Regel führt er anschließend eine Ultraschalluntersuchung durch, misst den Blutdruck und nimmt dem Erkrankten Blut ab – einerseits um andere Ursachen für den Gewichtsverlust auszuschließen und andererseits um seine Therapie auf etwaige Ergebnisse anzupassen.
Wie wird eine Magersucht behandelt?
Die Therapie der Magersucht ist vielschichtig, umfasst die körperlichen und psychischen Aspekte der Erkrankung und bedarf viel Geduld. Viele Patienten sind hin- und hergerissen zwischen der Erkenntnis, dass sie dringend Hilfe brauchen, und der Ablehnung jeglicher Therapie.
Je nach Krankheitsbild wird Magersucht ambulant oder stationär behandelt. Nimmt die Erkrankung lebensgefährliche Ausmaße an oder spielen weitere körperliche oder psychische Erkrankungen eine Rolle, wird die Therapie stationär begonnen, unter bestimmten Umständen, z. B. bei akuter Lebensgefahr, auch gegen den Willen des Patienten.
Nicht immer kann die Magersucht geheilt werden, insbesondere bei chronischen Verläufen. Eine Therapie verbessert aber in jedem Fall die Lebensqualität und kann suizidale Absichten stoppen.
In der Regel arbeiten verschiedene Spezialisten zusammen, um den Patienten wieder ins körperliche und seelische Gleichgewicht zu bringen: Ärzte verschiedener Fachrichtungen, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Ernährungstherapeuten, Musiktherapeuten, Sozialpädagogen und Pflegekräfte bringen ihre Expertise ein.
Diese sogenannte multimodale Therapie setzt sich zusammen aus körpermedizinischen, verhaltenstherapeutischen, systemisch-familientherapeutischen und tiefenpsychologischen Elementen und fördert die Selbsthilfe der Patienten.
Ein primäres Ziel der Therapie ist es, das Gewicht erst einmal zu stabilisieren und dann mit und mit wieder in einen gesunden Bereich aufzubauen. Körperliche Defizite und Mangelerscheinungen müssen ausgeglichen werden. Dazu müssen die Betroffenen in erster Linie wieder lernen, regelmäßig und ausgewogen zu essen. Dies ist meist ein weiter Weg, der die Betroffenen viel Überwindung kostet.
Zur Therapie gehören auch eine Schulung der Körperwahrnehmung und gemäßigter Sport. Die Patienten sollen sich wieder selbst fühlen und realistisch einschätzen können. Gewicht und die körperliche Aktivität werden regelmäßig dokumentiert, um Fort- und auch Rückschritte sichtbar zu machen.
Sind die Erkrankten körperlich stabil, können die Ursachen der Magersucht im Rahmen einer Psychotherapie ergründet, das selbstzerstörerische Verhalten gestoppt und Methoden zur Rückfallprophylaxe entwickelt werden – die Therapieinhalte und-methoden sind hierbei immer individuell.
In Gesprächen und Verhaltensschulungen werden mögliche Auslöser und aufrechterhaltende Faktoren der Erkrankung thematisiert und Lösungen entwickelt, aus dem Teufelskreis aus Kalorienzählen, Selbstverachtung und Leistungsdruck auszubrechen. Den Patienten werden Strategien und Aktivitäten vermittelt, die sie in ihrem Selbstbewusstsein stärken, ihnen Orientierung geben und ihnen helfen, den Alltag zu meistern.
Unter Umständen wird die Therapie durch bestimmte Medikamente unterstützt, insbesondere wenn andere psychische Erkrankungen, wie z. B. Depressionen, zum Krankheitsbild gehören.
Wie sind die Heilungschancen bei Magersucht?
Wird die Magersucht während der Pubertät festgestellt und behandelt, sind die Heilungschancen recht gut. Lassen sich die Erkrankten nicht behandeln, steigt das Risiko, dass die Magersucht chronisch wird – und damit auch das Sterblichkeitsrisiko.
Entwickelt sich die Magersucht bereits vor der Pubertät, ist die Prognose schlechter. Oft haben magersüchtige Kinder weitere Entwicklungsstörungen, die die Therapie erschweren. Ihr Wachstum und ihre Geschlechtsreife werden gestoppt oder verzögert.
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