Zwangsstörungen

Zwanghaftes Verhalten kennt jeder, z. B. mehrfaches Kontrollieren, ob die Tür abgeschlossen ist – auch wenn man genau weiß, dass man abgeschlossen hat. Tritt ein solches Verhalten dauerhaft auf und leidet die Alltagsgestaltung des Betroffenen darunter, spricht man von einer Zwangsstörung. Diese kann extreme Formen annehmen und mit einem großen Leidensdruck einhergehen, so dass ein unbeschwertes Leben nahezeu unmöglich wird. Dann ist unbedingt ärztliche Hilfe notwendig.

Was sind Zwangsstörungen?

Die Zwangsstörung (auch als Zwangserkrankung bezeichnet) ist eine häufig auftretende psychische Störung. Oft bleibt sie unerkannt – die Zwänge werden als Spleen belächelt. So leben viele Menschen jahrelang mit ihrer Erkrankung, ohne ärztliche Hilfe zu suchen. Sie entwickeln Kontrollmechanismen oder ziehen sich völlig aus dem sozialen Leben zurück – und leiden still.

Zwangsstörungen umfassen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen – in der Regel treten diese kombiniert auf.

  • Zwangsgedanken sind sich ständig wiederholende Gedanken, Bilder oder Impulse. Sie lassen sich kaum unterdrücken; gleichzeitig erlebt der Betroffene sie als übertrieben, unsinnig und beschämend. Beispiele für Zwangsgedanken sind die andauernde Angst vor Krankheiten, die Angst, etwas vergessen zu haben oder sich nicht angemessen zu verhalten.
  • Zwangshandlungen sind bestimmte Rituale, die die Betroffenen wieder und wieder ausführen. So sollen Ängste, Unbehagen oder Ekel verringert werden, die durch Zwangsgedanken ausgelöst worden sind. Als Beispiel sei der Putzzwang genannt, bei dem aus Angst oder Ekel vor Schmutz ständig die Wohnung geputzt wird. Charakteristisch für Zwangshandlungen ist, dass Betroffene unruhig und ängstlich werden, wenn sie versuchen, die Handlungen zu unterdrücken.

Die Facetten einer Zwangsstörung sind sehr individuell und reichen von eher harmlosen Gedanken und Ritualen bis hin zu extremen Formen. Häufig treten Zwangsstörungen auch zusammen mit anderen psychischen Erkrankungen auf, wie z. B. Depressionen.

Wer ist betroffen?

Zwischen zwei und drei Prozent der Bevölkerung sind im Laufe ihres Lebens von einer Zwangserkrankung betroffen. Oft treten erste Symptome schon in der Kindheit oder Jugend auf. Im Alter zwischen 12 und 14 Jahren sowie zwischen 20 und 22 Jahren ist eine Häufung des Erkrankungseintritts erkennbar. Bei 85 Prozent aller Betroffenen lässt sich der Beginn der Zwangserkrankung vor dem 30. Lebensjahr feststellen, bei Männern im Schnitt fünf Jahre früher als bei Frauen.

Wie äußern sich Zwangsstörungen?

Hauptsymptome sind unkontrollierbare Gedanken, häufig verbunden mit Angst oder Ekel, und stereotype Verhaltensmuster: Die Betroffenen müssen alles mehrfach kontrollieren, überlegen oder tun. Sie wiederholen sich ständig, obwohl sie wissen, dass es unsinnig ist, fühlen sich unwohl, bedrängt oder getrieben. Aber die Zwangsstörung gibt ihnen in dem Moment vermeintliche Sicherheit und reduziert ihre Anspannung und Angst.

Die häufigsten Zwangsstörungen sind:

  • Kontrollieren, ob alle Türen oder Fenster geschlossen sind
  • Häufiges Händewaschen; ständiges Putzen der Wohnung
  • Bestimmtes Hinlegen oder Ordnen von Gegenständen
  • Ständiges Wiederholen von Worten, Zahlen oder Gebeten

Ein Beispiel: Bevor er das Haus verlässt, kontrolliert ein Betroffener immer 5-mal sehr aufwendig, ob die Fenster überall geschlossen sind. Er hat Angst, dass seine Kanarienvögel eine Rauchvergiftung erleiden könnten, wenn es in der Nachbarschaft brennt. Der Kontrollzwang gibt ihm vermeintlich Sicherheit.

Die zwanghaften Gedanken oder Impulse können auch extreme Formen annehmen, wie z. B. „Ich muss meine Mutter umbringen“. Diese Gedanken werden zwar fast nie in die Tat umgesetzt, aber die Angst davor, es vielleicht doch tun zu können, ist bei den Betroffenen sehr groß. Häufig überlagern sie solche Gedanken durch weitere „harmlosere“ Zwangsgedanken oder -handlungen. Ein Teufelskreis aus quälenden Gedanken, Schuldgefühlen und ritualisiertem Verhalten beginnt. Werden die Betroffenen bei der „Ausübung“ ihrer Zwänge gestört, entwickeln sie starke Angst und reagieren unter Umständen aggressiv.

Zwar sind die Inhalte der Zwangsgedanken individuell, doch gibt es bestimmte Themen, die sich wiederholen:

  • Gewalt: „ Ich werde meine Mutter töten“
  • Krankheit: „Ich bekomme Krebs, wenn ich das anfasse“
  • Magie: „Wenn ich diese Türe nicht dreimal auf- und abschließe, verunglückt meine Tochter“
  • Sauberkeit: „Wenn ich das nicht sauber mache, werde ich krank“
  • Religion: „Wenn ich nicht bete, komme ich in die Hölle“
  • Sexualität: „Ich werde impotent, wenn ich nicht täglich masturbiere“

Wie entstehen Zwangsstörungen?

Bei der Entwicklung einer Zwangsstörung wirken vermutlich verschiedene Faktoren zusammen. Diskutiert werden genetische, organische und psychische Faktoren. Welche der einzelnen Faktoren besonders relevant sind, ist individuell unterschiedlich.

Genetische Faktoren:
Studien belegen, dass die Erkrankung in bestimmten Familien gehäuft vorkommt: 3 bis 12 Prozent der Verwandten ersten Grades (Geschwister, Eltern oder Kinder) des Betroffenen leiden ebenfalls an einer Zwangserkrankung; zwischen 8 und 30 Prozent zeigen zumindest gewisse Zwangssymptome.

Auffällig ist, dass Gen- und Umwelteffekte, wie bestimmte Lebensereignisse, vielfältige Wechselwirkungen zeigen.

Organische Faktoren:
Wie Untersuchungen zeigen, lassen sich bei manchen Erkrankten hirnorganische Faktoren ausmachen. So zeigen Patienten mit neurologischen Erkrankungen, bei denen bestimmte Hirnbereiche beteiligt sind, wie z. B. bei Tic-Störungen, auch gehäuft Zwangssymptome

Durch bildgebende Untersuchungen kann eine Veränderung des Hirnstoffwechsels und der Hirnaktivität in bestimmten Hirnarealen nachgewiesen werden. Es ist aber noch nicht geklärt, ob diese Veränderungen die Ursache für eine Zwangsstörung sind oder eine Begleiterscheinung. Was die Forscher hingegen belegen können: Sobald der Betroffene erfolgreich behandelt worden ist, normalisieren sich die auffälligen Hirnaktivitäten wieder.

Insbesondere die Neurotransmitter (Hirnbotenstoffe) Serotonin und Dopamin sind für die Aktivitäten im Gehirn bei Zwangsstörungen relevant. Diese sind u. a. für Stimmung, Angst und Sexualität mitverantwortlich.

Psychische Faktoren:
Bestimmte Charaktereigenschaften können die Entwicklung von Zwangsstörungen fördern, wie z. B. der Hang zum Perfektionismus oder ein besonders ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein.

Eine Zwangsstörung kann auch durch belastende Lebensereignisse und schwere Krisen ausgelöst werden, wie z. B. durch Misshandlungen in der Kindheit oder den Verlust eines nahestehenden Menschen.

Ebenfalls kann die Erziehung eine große Rolle bei der Entwicklung von Zwangsstörungen spielen. So können z. B. eine zu starke Reinlichkeitserziehung oder zu wenig Entscheidungsspielraum in der Jugend Zwangsstörungen begünstigen.

Auch die Reaktion auf eine erstmals auftretende Zwangsstörung und der Umgang damit können den weiteren Verlauf prägen: Entwickeln Kinder ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten, lernen sie nicht, dass das „Nicht-Ausleben“ ihres Zwanges keine negativen Konsequenzen hat. Sie geraten damit immer weiter in den Teufelskreis aus Angst, Zwang und (vermeintlicher) Sicherheit.

Wie werden Zwangsstörungen festgestellt?

Die Diagnose „Zwangserkrankung“ stellt in der Regel ein Psychiater oder Psychotherapeut. Entscheidend für die Diagnosestellung ist, dass Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen vorliegen, die mit einer spürbaren Beeinträchtigung im Alltag verbunden sind. Wichtig ist zu erkennen, ob die Zwänge Begleiterscheinungen einer anderen psychischen Erkrankung sind, wie z. B. einer schweren Depression.

Um sich ein Bild zu machen, fragt der Arzt in einem ausführlichen Gespräch zunächst nach bestimmten Gedanken- und Verhaltensmustern, z. B.:

  • Ist Ihnen extreme Sauberkeit wichtig? Waschen Sie sich sehr häufig?
  • Gibt es Gedanken, die Sie beunruhigen und die Sie nicht denken möchten, die Sie aber nicht abschütteln können?
  • Nimmt es viel Zeit in Anspruch, Ihre täglichen Verrichtungen durchzuführen?
  • Überprüfen oder kontrollieren Sie viel?
  • Beschäftigen Sie sich viel mit Ordnung und Symmetrie?

Im Anschluss folgt eine gründliche körperliche Untersuchung, um mögliche weitere Erkrankungen zu erkennen bzw. auszuschließen. Hierbei kann auch ein EEG oder eine Kernspintomografie eingesetzt werden, um hirnorganische Ursachen abzuklären.

Wie werden Zwangsstörungen behandelt?

Die Therapie der Zwangsstörungen erfolgt immer nach dem individuellen Krankheitsbild und dem Schweregrad der Erkrankung . Dabei kommen sowohl psychotherapeutische als auch medikamentöse Maßnahmen zum Einsatz.

Psychotherapie
Bei der Psychotherapie wird das Verhalten des Patienten reflektiert und die Ursachen, die zur Zwangsstörung geführt haben, werden aufgedeckt und aufgearbeitet. Gemeinsam mit dem Patienten werden Strategien entwickelt, die Zwangsstörungen abzubauen und im Idealfall einzustellen.

Als Methode der Wahl gilt die kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition und Reaktionsmanagement. Hier wird der Patient seinen Zwängen ausgesetzt und die Reaktion darauf trainiert. Dabei lernt er, dass das Nicht-Ausführen seines Zwanges keine negativen Folgen für ihn oder andere hat.

Je nach Komplexität des Krankheitsbildes kommen weitere kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren zum Einsatz. Eine wichtige Therapiesäule ist auch die Einbindung der Bezugspersonen.

Medikamentöse Therapie
Hier stehen dem Arzt verschiedene Wirkstoffe zur Verfügung. Häufig werden so genannte selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) eingesetzt: Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin oder Sertralin. Diese Substanzen wirken bei Zwangsstörungen ebenso gut wie bei Depressionen.

Die Wirkung setzt nach ca. ein bis zwei Monaten ein. Die Medikamente müssen über einen längeren Zeitraum von mindestens zwei Jahren eingenommen werden, damit sie nachhaltig wirken.

Wenn der Patient auf die SSRI nicht ausreichend anspricht, kann der Arzt medikamentöse Alternativen einsetzen. Es wird empfohlen, eine medikamentöse Behandlung immer mit kognitiv-verhaltens-therapeutischen Maßnahmen zu kombinieren.

Wie sind die Heilungschancen bei Zwangsstörungen?

Werden Zwangsstörungen nicht behandelt, werden sie in der Regel chronisch. Die Intensität der Zwänge kann dabei durchaus variieren, man spricht von einem fluktuierenden Verlauf. Meistens nimmt die Intensität mit der Dauer der Erkrankung zu und neue Zwänge kommen hinzu. Der Alltag wird mehr und mehr eingenommen – Isolation und sozialer Rückzug sind oft die Folgen.

Betroffene sollten unbedingt professionelle Hilfe eines Psychiaters und Psychotherapeuten in Anspruch nehmen, denn allein können sie dem Teufelskreis in der Regel nicht entkommen.

Durch eine Therapie können Ängste und Zwänge minimiert werden. Die Betroffenen lernen neue Verhaltensmuster und gewinnen ihre Lebensqualität zurück, auch wenn die Zwänge nicht vollständig verschwinden.

Je früher die Therapie beginnt, desto besser ist die Prognose. Selbst wenn die Erkrankung schon seit Jahrzehnten besteht, lassen sich sehr gute Therapieerfolge erzielen.

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